The Crystal Method

Als Fotokünstlerin setzt sich Crystal Renn am liebsten selbst in Szene. Wir sprachen mit der Künstlerin über Selbstwahrnehmung.

Kein Bild ohne Crystal: Als Fotokünstlerin setzt sich Crystal Renn am liebsten selbst in Szene. Fern vom glatten Glanz inszeniert sie rohe Bildwelten und rückt sich auch mal in den Schatten. Das pralle Scheinwerferlicht kennt sie ja schon: Mit 14 wurde die heute 30-jährige Amerikanerin als Model entdeckt, nach dürren Zeiten bekam sie die Kurve und wurde zum „Übergrößen“–Model. Heute hält die Wahl- New-Yorkerin mit Kampagnen, Ausstellungen und als Fotografin alles im Gleichgewicht.

Eine neue Generation von Feministen und Bewegungen wie #bodypositive feiern na-türliche und vielfältige Körperbilder – wie empfindest du diese Bewegungen? Siehst du dich als Pionierin dieses Zeitgeistes?
Die Menschen haben keine Lust mehr, sich ungenügend zu fühlen. Dafür gibt es nur die Lösung, das eigene Anderssein und auch das der Mitmenschen zu akzeptieren. Wenn wir alle gleich aussehen sollten, würden wir es schon tun – ich glaube eben daran, dass das nicht das Ziel sein kann. Jetzt ist das ein großes Thema. Wenn ich zum Beispiel an das Jahr 2004 zurückdenke, war das alles noch gar nicht so im Gespräch wie heute. Damals war es allenfalls ein leises Flüstern. Ich entschied mich aber trotzdem schon zu der Zeit, zu zeigen, wie anders ich bin. Die Schönheitsstandards mussten sich einfach weiterentwickeln und jemand musste dafür öffentlich einstehen. Ich habe es zu meiner Aufgabe gemacht und einen großen Teil meines Lebens diesem Thema gewidmet. Mit meinen Shootings, meinem Buch »Hungry« und Interviews. Ich möchte die Menschen zum Nachdenken in dieser Sache ermutigen, auch weil ich weiß, was sich bei mir getan hat, als ich Frieden mit mir schloss. Das Ziel: leben und leben lassen, solange man nieman-dem dabei schadet.

Hat sich denn der Blick auf Schönheit in den letzten zehn Jahren stark verändert?
Absolut – das hat er immer und wird es auch weiterhin tun. Das war bisher in jeder Dekade so. Zum Beispiel in den frühen 1900er-Jah-ren: Egal, ob du mit Kurven oder ohne geboren wurdest, die Sanduhr-Silhouette war das Ideal. Also sind alle Frauen losgegangen und haben sich Korsetts besorgt. In den 20ern haben sich die Frauen dann die Brüste abgeklebt, um eine Flapper-Figur zu haben. In den 80er- und 90er-Jahren haben wir uns eingeölt und in die Sonne gelegt, um zu bräunen. Heute meiden wir die Sonne und es gibt bleichende Cremes. Ich mag es nicht, wenn Schönheitsideale zu trendy werden, weil dabei immer eine Mehrheit ausgeschlossen wird, und das ist auf vielen Ebenen gefähr-lich. Mir gefällt die Idee vorwärtszukommen, und zwar mit dem Wissen, dass viele Wege zu Schönheit führen – das soll kein kurzer Trend sein, sondern eine Lebensart, die auch in den kommenden Dekaden Bestand hat. Ein Trend ohne Ende also.

Wieso – und wann – hast du begonnen, dich selber zu fotografieren?
Es fing mit Instagram an – obwohl ich erst sehr zurückhaltend mit Social Media war. Auf einem Shooting hat mich die Crew dann aber überredet, mir einen Account anzulegen. Auf dem Weg zum Set habe ich im Auto das erste Bild gemacht. Ich habe die Kamera auf den Seitenspiegel im Auto gerichtet und fand die Verzerrung, die dadurch auf meinem Gesicht entstand, toll. So fing es an. Die Leute haben schnell auf meine Bilder reagiert und ich bekam immer mehr Anfragen, um Fotos zu schießen. Ich kenne mich als »Subjekt« durch das Modeln ja extrem gut und es fühlte sich dadurch einfach natürlich an, selber die Kamera auf mich zu richten.

Wie möchtest du gerne gesehen werden?
Auf viele Arten und ohne abgestempelt zu werden. Als Model habe ich die Verwand-lung geliebt und wollte in so viele Rollen wie möglich schlüpfen. Als ich selbst zum Job zu gehen und mich dann zu verwandeln, in eine andere Rolle zu schlüpfen, das hat mich begeistert. Mit meiner Fotografie zeige ich aber eine verdeckte Seite von mir. Ich bin deshalb dabei auch lieber alleine im Raum und schaue, was mit mir passiert. Das Wichtigste ist dann, wie und was ich fühle. Die Antwort ist also: Es kommt ganz darauf an, was ich tue.

Gibt es für dich einen Unterschied zwischen Selfie und Selbstporträt?
Eigentlich nicht – außer, dass Leute, die Selbstporträt sagen, es wohl etwas ernster mit der Fotografie meinen als jemand, der sein Bild einfach Selfie nennt. Der alltägliche Gebrauch von iPhones und ihr künstlerischer Einsatz hat einfach den Begriff geprägt. Es gibt ja viele Möglichkeiten, ein Selbstbildnis einzufangen. Davon ist das Selfie nur eines …

Es fördert aber auch die »Selfobjectification« in den sozialen Medien – wie stehst du dazu?
Das ist eine totale Hassliebe! Viele Menschen haben durch Social Media eine Stimme bekommen, die vorher keine hatten. Es hat das Bewusstsein im Positiven wie Negativen geprägt. Die Leute kennen jetzt die Möglichkeiten, die sie im Leben haben – weil sie sie bei anderen sehen. Ohne das Haus zu verlas-sen, kann man sich mit vielen Menschen auf der Welt verbinden, ob es nun auf seltsamen Hobbys basiert oder einfach einer besonderen Lebensart. Das bringt Zusammenhalt. Wenn Accounts aber nur zeigen, wie jemand viel Geld ausgibt und welche Klamotten und Beautysachen er kauft, glorifiziert das nur »Besitz«. Wer nichts besitzt, blickt neidvoll auf ein Leben, das er sich wünscht, aber nicht haben kann. Da offenbaren sich die Schwächen der Gesellschaft. Und durch die Anzahl der Likes ist dann auch noch messbar und für alle ersichtlich, was am meisten Anerkennung genießt. Mich packt das nicht, aber da bin ich vielleicht eine von wenigen.

Wann ist ein Bild schön?
Es muss mich mitreißen. Egal, was der Inhalt oder Stil ist, wenn wegschauen schwer wird und ich anfange, darauf zu starren, und es immer genauer studiere, ist das ein Zeichen, dass es mich berührt.

Und wann ist ein Mensch schön?
Ich glaube wirklich daran, dass alles Lebendige auch schön ist. Selbst die verdorbenste Kreatur. Schon alleine, weil sie am Leben ist und ihre ganz eigene Geschichte hat. Alleine, dass man eigentlich schon da ist, bevor man überhaupt im Mutterleib landet! Jeder ist mit seinem ersten Atemzug ein Held und entwi-ckelt seine eigene Geschichte. Keine Story gibt es noch einmal.

Ist Schönheit eigentlich demokratisch?
Mehr als jemals zuvor – aber lass uns ruhig weiter daran arbeiten!

Und wenn du deine Geschichte doch noch einmal schreiben könntest – welchen Rat würdest du deinem jüngeren Ich heute geben?
Balance zu finden ist keine einmalige Sache in dem Sinne »Wenn du’s einmal hast, dann bleibt’s«, sondern ein ständiges Austarieren, weil alles immer in Bewegung ist. Denk daran, wie es die großen Alchemisten machen: »It’s all in the mix« – und jeder Moment eine Möglichkeit, das Leben wieder ins Gleichge-wicht zu bringen. Es wäre schön gewesen, zu wissen, dass diese Balance das größte und höchste Ziel auf allen Ebenen ist.

Als du noch nicht um die Balance wusstest, war Modeln dein Traum – wovon träumst du denn heute noch?
Ich bin immer noch erstaunt, was ich heute erreicht habe und was ich noch vor 5 Jahren niemals in Betracht gezogen hätte. Außerdem träume ich davon, viele Fähigkeiten zu haben, meine versteckten Talente zu entdecken und die zu kultivieren, die ich schon kenne. Das Modeln hat mir die Augen geöffnet, mir meine Potenziale gezeigt und mir erlaubt zu entdecken. Ich bin jetzt Autorin, Fotografin und Schauspielerin, in der Zukunft möchte ich mich noch in Film und Musik ausprobieren. Seit vielen Jahren bin ich »Diversity«-Akti-vistin, jetzt weiß ich, dass ich mich auch für die Umwelt einsetzen möchte. Ich mache mir Sorgen um unseren Planeten und die Natur und fühle mich verpflichtet, auch hier einen Beitrag zu leisten.

Als „XL-Model“ sorgte Crystal Renn Mitte der 2000er-Jahre erstmals für die kritische Auseinandersetzung mit den in der Modebranche gängigen Körperidealen. Einer ihrer aufsehener-regendsten Auftritte: das Posing auf der Jean-Paul-Gaultier-Show im Oktober 2005 mit Konfektionsgröße 42. 2009 erschien dann das Buch „Hungry“, in dem sie ihre mageren Jahre themati-sierte. In den frühen 2010ern schien Renn zurück zur schmalen Silhouette geschrumpft. Heute hat sich alles ein-gependelt und auf die Größe kommt es bei der Künstlerin längst nicht mehr an.

[Interview]
Laura Dunkelmann
[Foto]
Crystal Renn
April 12, 2017
Archiv
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