TUSH: Dein Job ist sehr vielfältig: Du warst als Key Make-up-Artist verantwortlich für die ARD-Serie Schwarze Früchte, arbeitest für Editorial- und Covershoots und regelmäßig mit bekannten Gesichtern wie Maximilian Mundt, Karoline Schuch – kurz gesagt: Du bist booked & busy. Was würdest du jungen Talenten oder angehenden Make-up-Artists mit auf den Weg geben, die heute anfangen?
Tanja Gravina: Eine Form von Balance aus dem Nötigen, Kommerziellen und dem Spaßigen, Freien zu finden, und das so früh wie möglich. Denn das, wofür du bezahlt wirst, ist oft eher unkreativ. Es ist aber ein riesengroßes Privileg, dass du überhaupt davon leben kannst und dafür bezahlt wirst. Deswegen sollte man sich die kommerzielle Seite auf keinen Fall kleinreden oder irgendwie nicht ernst nehmen. Genauso wenig darf man vergessen, warum man angefangen hat. Beides ist ein Privileg, und mit der Balance ist man mental und finanziell abgesichert.
Was hat dich dazu bewegt, Make-up-Artist zu werden?
Tatsächlich wusste ich schon, seit ich 14 bin, dass ich Make-up- und Hair-Artist sein will. Kreieren und Machen hat mir schon immer Spaß gemacht. Ich habe immer gezeichnet oder gebastelt, etwas hergestellt, gemacht, auseinandergebaut. Für mich ist das alles derselbe kreative Topf. Es war mir eine Erleuchtung, dass man beruflich Leute tatsächlich „anmalen“ darf.
Neben deiner Make-up-Karriere machst du auch Hair und bist Nail-Artist. Außerdem fotografierst und lehrst du an der THE FACE – Art Academy Hamburg. Könntest du dir vorstellen, dich irgendwann ganz auf eines dieser Felder zu konzentrieren, oder ist genau diese Vielseitigkeit das, was dich erfüllt und deine Arbeit ausmacht?
Pistole auf die Brust – da könnte ich mich aus dem Stegreif gar nicht entscheiden. Und das will ich auch gar nicht, denn dafür habe ich ja angefangen, mit diesem ganzheitlichen Spaß an der Sache. Ich habe einfach Glück, dass meine Bastelei und Malerei sich so vielfältig manifestieren dürfen. Die Fotos mache ich eher nebenbei und für mich selbst.
Ich unterrichte Haare und Make-up, und das mache ich jetzt schon seit etwa acht Jahren. Seit Kurzem bin ich an einer neuen Schule, und zwar an der, an der ich selbst gelernt habe. Ich freue mich sehr, jetzt wieder dort zu sein. Es ist eine wirklich gute Schule, und es macht einfach Freude zu sehen, wie sich die Lernenden entwickeln.
Ein richtiger Full-Circle-Moment, da zu lehren, wo du auch selbst gelernt hast.
Total. Das Unterrichten bedeutet mir wirklich viel, und es ist extrem motivierend. Ich liebe meinen Beruf so sehr, dass es für mich kaum etwas Schöneres gibt, als mit anzusehen, wenn andere diese Leidenschaft auch für sich entdecken.
Wie beeinflussen sich deine unterschiedlichen Handwerke gegenseitig?
Sehr stark. Weil ich alle Bereiche kenne und auch selbst bediene, kann ich sie im Zusammenspiel sehr bewusst einsetzen. Das Wissen über die verschiedenen Bereiche hilft mir, meine Arbeit gezielter abzustimmen – sei es auf das große Ganze, aber auch auf feine Details. Es geht am Ende immer darum, dass alles zusammen harmonisch funktioniert.
Dein Stil ist ausdrucksstark, manchmal mit einem Hauch von Grunge und gleichzeitig ein wenig ätherisch. Was inspiriert dich, und wie würdest du selbst deinen Signature-Look beschreiben?
Ich finde es spannend, meinen Stil durch eine Außenperspektive beschrieben zu bekommen. Wahrscheinlich würde ich es ähnlich einordnen, aber selbst könnte ich es gar nicht so klar benennen. Das, was du als Grunge bezeichnest, kommt wahrscheinlich daher, dass ich einfach ein Gruftie bin.
Ich finde es spannender, mit Kontrasten zu arbeiten: etwas Schönes hässlicher zu machen oder etwas Hässliches schöner. Für mich geht es immer darum, eine gewisse Spannung zu erzeugen. Das gilt auch für Farben. Ich liebe es, Töne zu kombinieren, die gar nicht zueinander passen. Beispielsweise ein klassisches Farbschema zu nehmen und mich dann zu fragen: Was wäre, wenn diese Farben ein Jahr lang auf einem Polaroid in der Sonne liegen würden? Ich versuche immer, an irgendeiner Stelle abzubiegen. So, dass es eben nicht so ist, wie man es erwarten würde.
Also basically einen Edge in deine Arbeit bringen?
Ja, genau. Du hast recht mit dem Begriff „Edge“. Ich verwende dieses Wort aber nur ungern. Denn für mich fühlt sich „edgy“ einfach nur nach meinem Normalzustand an.
Arbeitest du eher intuitiv oder planst du deine Looks detailliert? Wie sieht dein kreativer Prozess aus, von der Idee bis zum finalen Look?
Meistens habe ich zuerst eine Idee und schaue dann, in welchem Medium sie am besten funktioniert. Das zwingt mich automatisch dazu, konzeptionell zu denken und direkt in Looks. Einen festen Plan habe ich aber selten. Klar, bei Produktionen muss man bestimmte Dinge vorbereiten, aber wenn ich zum Beispiel Nägel mache oder ein Make-up, arbeite ich meistens von einer groben Ausgangsidee heraus.
Beim Make-up fange ich oft mit einem einzelnen Element an – wie einer bestimmten Form, Farbe oder einem Feature. Manchmal ist es nur: „Okay, ich will superblasse Haut machen“, und dann überlege ich, was dazu passt. Mein Workflow ist ziemlich intuitiv, aber gleichzeitig auch stark geprägt davon, dass ich extrem viele Medien konsumiere und ein riesiges Archiv im Kopf habe. Deshalb ist meine Intuition nicht nur Gefühl, sondern auch stark von visuellen Referenzen und faktenbasiert. Emotional arbeite ich eher nicht. Der emotionale Teil kommt erst später, wenn ich das Ergebnis sehe.
Was füllt dieses ständig wachsende Archiv in deinem Kopf?
Für mich gibt es keinen besseren Designer als die Natur. Was soll schöner sein als eine Wirbelsäule, als Korallen, als Fischmuster? Alles, was der Mensch macht, sind letztlich auch Wiederholungen oder Abstraktionen davon. Und mehr kann ich auch nicht leisten – ich bin ja auch nur ein Mensch. Ich schaue deshalb sehr gerne in die Natur, weil da die spannendsten Farben und Muster passieren
Inwiefern hat sich deine Arbeit und dein Stil im Laufe der Jahre verändert? Gibt es Phasen, in denen du dich neu erfinden musstest oder wolltest?
Ich nehme mir ehrlich gesagt selten die Zeit, alles in Ruhe Revue passieren zu lassen. Ich arbeite sehr viel, weil ich das so möchte, und dementsprechend habe ich wenig Zäsuren gehabt. Deshalb fühlt sich vieles eher wie ein fließender Prozess an, und dafür bin ich sehr dankbar.
Was ich aber merke, ist: Je länger ich das mache, desto ehrlicher werde ich. Mit meinem Stil, mit meinen Entscheidungen und auch in meiner Ausdrucksart. Es ist fast witzig, denn je älter ich werde, desto näher komme ich wieder dem, was ich früher schon cool fand.
Ich glaube, in den frühen Zwanzigern bemüht man sich oft noch sehr, ein „funktionierender Erwachsener“ zu sein, Erwartungen zu erfüllen und sich an Trends zu orientieren – gerade in dieser Branche. Ich habe versucht, mich davon möglichst früh zu lösen, weil ich gemerkt habe, dass das alles vergänglich ist.
Heute versuche ich einfach, ich selbst zu sein. Nicht, weil es unbedingt leicht ist, sondern weil es sich richtiger anfühlt. Ich passe mich weniger an, arbeite intuitiver, das macht den Prozess ehrlicher und vor allem fruchtvoller.
„Interessanterweise war der Moment, der sich am meisten wie ein echter Durchbruch angefühlt hat, nicht einer dieser Jobs. Sondern der Moment, in dem ich einfach genau das gemacht habe, was ich selbst sehen wollte. Ohne Kompromisse“
Wann wurde dir klar: Je authentischer du arbeitest, desto eher finden die richtigen Menschen zu dir?
Das ist mir sehr früh aufgefallen. Als ich 11 war, trug ich Full-Goth-Make-up. Dafür habe ich sehr viel Gegenwind bekommen. Aber ich habe damals schon festgestellt, dass es mir nicht besser geht, wenn ich diesem Gegenwind folge.
Beruflich habe ich dann bei den freien Sachen festgestellt, dass ich einfach mehr Spaß daran habe, wenn ich mache, was ich will. Und lustigerweise ist dann auch immer die Konsequenz, dass man dafür früher oder später gebucht wird. Ich glaube, die Menschen erkennen immer, was performativ ist oder nicht. Und vielleicht ist das der Grund, warum das Authentische dann auch Erfolg hat.
Gibt es ein Projekt oder einen Moment, der sich für dich wie ein persönlicher Durchbruch angefühlt hat?
Als ich 14 oder 15 war, habe ich mir drei Lebensziele gesetzt. Man merkt schon, dass das die Ziele eines 15-jährigen Menschen waren, und von der Industrie hatte ich damals keine Ahnung. Auch wenn diese Ziele heute ein bisschen naiv wirken, waren sie mir damals unglaublich wichtig. Mit 23 habe ich sie alle erreicht, und ich war ehrlich überrascht.
Eines dieser Ziele war, einmal bei einer TUSH-Ausgabe mitzuarbeiten. Ich war schon immer ein sehr großer TUSH-Fan. Als Teenager war mein Geburtstagsgeschenk damals, dass meine Mutter mit mir zum Flughafen nach Hamburg gefahren ist, weil es die TUSH nur dort gab. Sie kann das bezeugen, klingt jetzt ein bisschen dramatisch, aber es war wirklich so. Als dann mein erster Auftrag für TUSH kam, habe ich sie sofort (weinend) angerufen.
Die anderen zwei Ziele waren: einmal für die Vogue bei der Paris Fashion Week arbeiten. Alles sehr prestigelastige Dinge. Und ich bin dankbar, dass ich das alles erleben durfte. Aber wenn man sich irgendwann ehrlich fragt, was man wirklich will, dann ändern sich diese Ziele. Heute will ich vor allem eins: glücklich sein und ausgeglichen leben. Das tue ich gerade – zum Glück.
Interessanterweise war der Moment, der sich am meisten wie ein echter Durchbruch angefühlt hat, nicht einer dieser Jobs. Sondern der Moment, in dem ich einfach genau das gemacht habe, was ich selbst sehen wollte. Ohne Kompromisse. Das klingt vielleicht egoman, aber es war das erste Mal, dass ich gespürt habe: Das bin ich wirklich.
Was sind deine nächsten Träume oder Visionen? Gibt es ein Projekt, das du unbedingt noch umsetzen möchtest, oder geht es dir vor allem darum, happy und ausgeglichen zu bleiben?
Das ist gar nicht so leicht zu beantworten, weil genau das tatsächlich mein Ziel ist. Ich glaube, gerade in dieser Zeit, in der wir uns global befinden, ist das ein sehr vernünftiges Ziel. Es ist eigentlich alles, was ich will: Davon leben zu dürfen, was ich mache. Glücklich dabei zu sein. Und mir mit dem Geld, das ich verdiene, den Luxus leisten zu können, freie Shoots zu machen, einfach aus reiner Lust und Freude.
Ich will einfach mit dem Flow gehen und mich weiterentwickeln. Noch besser und schneller werden, mit weniger Pinseln noch bessere Resultate erzielen. Ich habe überhaupt nicht das Gefühl, dass mir der Spaß daran verloren geht, im Gegenteil. Je mehr ich mache, desto größer wird der Hunger.
INTERVIEW: FIONA FROMMELT
ARTIST: TANJA GRAVINA
FOTOS: TANJA GRAVINA für TUSH