Den „Schrott des Westens“ in Gold und Würde umwandeln ist das zentrale Motiv der bosnischen Künstlerin Selma Selman. Damit arbeitet sie nicht nur die Geschichte ihrer eigenen Familie auf, sondern die Sichtweise auf eine ganze Community.
Den „Schrott des Westens“ in Gold und Würde umwandeln ist das zentrale Motiv der bosnischen Künstlerin Selma Selman. Damit arbeitet sie nicht nur die Geschichte ihrer eigenen Familie auf, sondern die Sichtweise auf eine ganze Community.
Selma Selman hat keine Angst davor, die Welt auf den Kopf zu stellen. Die Künstlerin, die sich vor allem durch Zeichnungen, Installationen und Performances ausdrückt, wird Anfang der 1990er-Jahre in Bihać, Bosnien und Herzegowina geboren. Selman wächst in einer Familie von Schrotthändlern auf, inmitten der Kunst der Verwandlung – so zerlegt sie als Kind etwa alte Autoteile, Toaster und andere Wegwerfwaren des europäischen Wohlstands, deren Einzelteile für die Familie noch gewinnbringend sind. Dieses Konzept des Recyclings prägt ihre Arbeit bis heute. Bei Selmans Kunst geht es also nicht nur um Form und Technik; sie ist Ausdruck davon, Machtstrukturen und tief verwurzelte Stereotype über die Roma-Gemeinschaft, der sie zugehörig ist, sichtbar zu machen. Als Heranwachsende während und nach dem Bosnienkrieg erlebt Selman Ausgrenzung und die Vorurteile, mit denen ihre Familie konfrontiert ist, aus erster Hand. Autohauben und -katalysatoren, defekte Computerteile – der Schrott anderer war für ihre Familie Gold wert, und genau diese Bedeutung stellt sie heute als Künstlerin aus. Sie wird deshalb oft als „The Transformer“ beschrieben. Ihre Werke geben ihrer Community Plattform und Würde (zurück) – und sie redefiniert auch ihre eigene Identität. Wenn sie sich selbst als „die gefährlichste Frau der Welt“ bezeichnet, provoziert sie nicht nur, sondern fordert ein Etikett zurück: „Diebe“, „Trickbetrüger“ sind rassistische Bezeichnungen, die Sinti und Roma immer wieder entmenschlichen. Selman verwandelt diese Vorurteile in ein radikales Statement für Handlungsfähigkeit und Macht.
Unser TUSH Editor und Designer Samir Duratović hat Selma Selman im Stedelijk Museum Amsterdam getroffen, wo sie zuletzt ihre Ausstellung „Sleeping Guards“ präsentierte, und hat mit ihr über Heimate im Plural, die Kraft der Rückeroberung der eigenen Geschichte und die Schönheit im Schrott gesprochen.
SAMIR DURATOVIĆ: Ich freue mich sehr, mit dir zu sprechen, vor allem, da wir ähnliche Wurzeln haben. Wie stark beeinflusst deine bosnische Herkunft dein Leben heute und auch deine Arbeit?
SELMA SELMAN: Meine Herkunft und das Land, in dem ich geboren wurde, beeinflussen mich definitiv. Gleichzeitig habe ich mich aber nie wirklich einem Ort zugehörig gefühlt. Mein Zuhause ist dort, wo ich mich mit meiner Familie und meinen Freunden und Freundinnen sicher und wohlfühle. Ich bin nicht besonders stolz, Roma zu sein, eine Bosnierin, Amerikanerin oder Niederländerin – obwohl ich in all diesen Ländern viele Jahre gelebt habe. Deshalb liebe ich die Freiheit, die ich habe. Die Freiheit, alles zu lieben, alles zu kritisieren und gleichzeitig das Gefühl zu haben, dass ich dazugehöre und gleichzeitig nicht. Wir sind nie weiß genug, nie bosnisch genug, deutsch genug oder niederländisch genug. Das ist das Paradoxon, in dem wir leben, Samir – und irgendwie auch unsere Kraft.
Du bist in Bihać, Bosnien, aufgewachsen, knapp 100 Kilometer entfernt von der Heimat meiner Eltern, wo ich als Kind jeden Sommer verbracht habe. Ich weiß, dass Kunst in dieser Region nicht gefördert wird und das Künstlerdasein wenig Verständnis findet. War es für dich schwierig, von dort aus deinen Einstieg zu finden?
Ja, es war schwer, an den Punkt zu kommen, an dem ich heute bin. Meine Familie konnte mich nicht finanziell unterstützen. Ich bin Teil der Roma-Gemeinschaft, was es noch schwieriger gemacht hat, weil sie bis heute von Diskriminierungen betroffen ist. Die Grundschule war besonders hart. Mobbing war an der Tagesordnung und diese Traumata trage ich noch immer mit mir, das Gefühl, nicht akzeptiert zu werden und nicht zu verstehen, warum. Dazu kommt das Thema Nachkriegszeit. Ich wurde 1991 geboren, inmitten der Kriegsjahre. Ich erinnere mich kaum daran, aber meine Mutter, meine Schwestern und mein Vater erinnern sich noch genau. Dieses Gefühl, ein generationenübergreifendes Trauma vererbt bekommen zu haben durch die Geschichten, die sie mir erzählt haben, trage ich in mir. Mein erster Lebensabschnitt war dennoch auf eine gewisse Weise schön, weil diese Zeit mich zu der Person gemacht hat, die ich heute bin: stark, aber auch emotional und geerdet. Ich habe nie meine Integrität verloren und wusste immer, wer ich bin und woher ich komme. Ich bin im Ghetto aufgewachsen, in der Mahala. Das ist der Ort, an dem ich mich gleichzeitig am stärksten und am verletzlichsten fühle. Wenn ich dorthin zurückgehe, habe ich Angst. In der Mahala werde ich mit der härtesten Kritik konfrontiert, aber gleichzeitig fühle ich mich mit diesem Ort am stärksten verbunden.
Mit diesem Hintergrund ist eine Solo-Ausstellung im Stedelijk Museum Amsterdam ein echter Meilenstein für dich – auch deine Künstlerresidenz an der Rijksakademie vorab ……
beides ist eine große Ehre. Das Stedelijk ist die größte Institution für moderne Kunst in Amsterdam. Für mich ist es besonders, nach der Rijksakademie-Residenz direkt zu einer Einzelausstellung in einem so renommierten Museum zu kommen. Diese Anerkennung zu erhalten, war auf viele Arten schön. Es gibt mir das Gefühl, sichtbar zu sein, als würden die Leute meine Arbeit respektieren und sie sehen wollen. Als sie mich einluden, die Ausstellung zu realisieren, dachte ich: „Okay, das werde ich möglich machen.“
Was wünschst du dir, durch deine Arbeit bei anderen auszulösen?
Bei jeder meiner Ausstellungen geht es mir um Glaubwürdigkeit. Jedes Werk, das ich zeige, ist für mich wertvoll. Sowohl im kommerziellen als auch im konzeptionellen Sinne. Ich möchte, dass die Menschen beim Betrachten meiner Arbeiten emotional berührt werden und gleichzeitig etwas Neues lernen. Mein Prozess ist lehrreich. Ich präsentiere nicht nur schöne Gemälde oder sage: „Schaut mal, ich kann malen“, vielmehr möchte ich zeigen: „Schaut mal, so denke ich!“ Wenn ich jemanden dazu anregen kann, seine Perspektive zu überdenken oder etwas zu hinterfragen, betrachte ich eine Ausstellung als erfolgreich.
Wenn du auf die Ausstellung „Sleeping Guards” zurückblickst, worauf bist du besonders stolz?
Ich bin stolz darauf, dass so viele Menschen die Ausstellung besucht und speziell auch meine Performance gesehen haben. Das ist für mich das größte Highlight. Es war ein großer Schritt, da es das erste Mal war, dass ich ohne meinen kürzlich verstorbenen Vater aufgetreten bin. Ich hatte nicht erwartet, während der Performance mit diesem Verlustgefühl konfrontiert zu werden. Jetzt spüre ich aber, dass er mir etwas hinterlassen hat, das ich weitertrage. Mein Bruder und mein Cousin waren da, um mich zu unterstützen, und gemeinsam haben wir eine Oper geschaffen – eine Oper über Maschinen, harte Arbeit, Mutterschaft, Gold und Kapitalismus. Themen, die ich in meiner Arbeit ständig hinterfrage.
Du bist für mich ein Vorbild, da ich mich durch deine Arbeiten als bosnische Künstlerin repräsentiert sehe und mich auch in meinem multikulturellen Struggle verstanden fühle – welche Person hat dich in deinem Leben und in deiner Kunst besonders geprägt?
Lustigerweise glaube ich, dass viele Menschen Ähnliches sagen würden – oder vielleicht auch nicht. Für mich jedenfalls ist das definitiv meine Mutter. Die Art und Weise, wie sie ihr Leben angenommen und gemeistert hat, egal wie schwierig es war, immer mit Würde und Widerstandskraft. Sie hat mir beigebracht, dass man die Dinge akzeptieren und das Beste daraus machen kann. Sie ist mein Idol. Ich habe aber nie wirklich zu berühmten Personen aufgesehen. Klar respektiere ich viele Leute, aber ich würde sie nie verehren. Und doch, paradoxerweise, verstehe ich, warum die Leute mich vielleicht als Vorbild sehen. Das mag daran liegen, dass ich etwas zu bieten habe – nicht nur ein schönes Gesicht, sondern echte Gedanken und echte Arbeit. Ich versuche aber nicht, ein Vorbild zu sein.
Denkst du, dass es heute generell mehr darum geht, gemeinsame Werte zu feiern, anstatt einzelne Individuen zu idealisieren?
Es geht meiner Meinung nach immer mehr darum, das Individuum zu verehren. Es gibt mehr berühmte Menschen als je zuvor, und auf eine Weise kann heutzutage jeder berühmt werden. Das habe ich 2018 in meiner Abschlussarbeit an der Syracuse University NYC vorhergesagt und auch, dass es cool werden wird, nicht berühmt zu sein, sich exklusiver und privater zu halten.
TUSH Magazine setzt sich mit Schönheitsidealen und Beauty-Culture auseinander. Stehen diese Themen auch in Verbindung zu dir und deinen Arbeiten?
Hierzu passt ein Gedicht sehr gut, das ich geschrieben habe:
Für mich liegt Schönheit also in den Dingen, die andere vielleicht als wertlos abtun – wie Staub oder Schrott. Ich verwandle sie in etwas Wertvolles, etwas Schönes, etwas, mit dem sich die Menschen verbinden können, von dem sie sich ursprünglich abwendeten. Um genau diesen Perspektivenwechsel geht es mir.
ENGLISH VERSION
SAMIR DURATOVIĆ: I’m really happy to be speaking with you, especially since we share similar roots. How much does your Bosnian heritage influence your life and your work today?
SELMA SELMAN: My background and the country I was born in definitely influence me. At the same time, I’ve never truly felt like I belonged to any one place. Home, for me, is wherever I feel safe and comfortable with my family and friends. I’m not particularly proud to be Roma, Bosnian, American, or Dutch – even though I’ve lived in all of those countries for many years. That’s why I value the freedom I have so much. The freedom to love everything, to criticize everything, and to feel like I belong – and at the same time, like I don’t. We’re never white enough, never Bosnian enough, German enough, or Dutch enough. That’s the paradox we live in, Samir – and somehow, it’s also our strength.
You grew up in Bihać, Bosnia, just about 100 kilometers from where my parents are from, a place where I spent every summer as a child. I know that art isn’t particularly supported in that region, and that being an artist often isn’t well understood. Was it difficult for you to get your start from there?
Yes, it was hard to get to where I am today. My family couldn’t support me financially. I’m part of the Roma community, which made things even more difficult, as we’re still affected by discrimination to this day. Primary school was especially tough. Bullying was a daily occurrence, and I still carry the trauma with me, the feeling of not being accepted and not understanding why. And then there’s the issue of the postwar period. I was born in 1991, right in the middle of the war years. I barely remember it, but my mother, my sisters, and my father remember everything clearly. That sense of inherited, generational trauma passed down through the stories they told me is something I carry with me. Still, that first part of my life was beautiful in its own way because it shaped who I am today: strong, but also emotional and grounded. I never lost my integrity and I’ve always known who I am and where I come from. I grew up in the ghetto, in the Mahala. It’s the place where I feel both the strongest and the most vulnerable. When I go back, I feel fear. In the Mahala, I’m met with the harshest criticism, but at the same time, I feel the deepest connection to that place.
Given that background, a solo exhibition at the Stedelijk Museum Amsterdam is a true milestone for you, along with your artist residency at the Rijksakademie beforehand.
Both are a great honor. The Stedelijk is the largest institution for modern art in Amsterdam. For me, it’s something special to go from a residency at the Rijksakademie straight to a solo exhibition in such a renowned museum. Receiving that kind of recognition was meaningful in many ways. It gives me the feeling of being seen, as if people respect my work and want to engage with it. When they invited me to create the exhibition, I thought, „Okay, I’m going to make this happen.“
What do you hope to evoke in others through your work?
With every exhibition I do, it’s about authenticity. Every piece I present is valuable to me, both commercially and conceptually. I want people to be emotionally moved when they see my work, but also to learn something new. My process is educational. I’m not just presenting pretty paintings or saying, „Look, I can paint.“ What I want to say is, „Look, this is how I think.“ If I can inspire someone to reconsider their perspective or question something, then I consider the exhibition a success. Looking back at your exhibition “Sleeping Guards,” what are you most proud of? I’m proud that so many people came to see the show, especially the performance. That was the biggest highlight for me. It was a big step, as it was the first time I performed without my father, who had recently passed away. I hadn’t expected to be confronted by that feeling of loss during the performance. But now I feel like he left something behind for me to carry forward. My brother and my cousin were there to support me, and together we created an opera—an opera about machines, hard work, motherhood, gold, and capitalism. These are themes I constantly question in my work.
You are a role model to me, because as a Bosnian artist I feel represented by your work, and it makes me feel seen in my own multicultural struggle. Who has had the biggest influence on your life and your art?
Funny enough, I think a lot of people might say something similar—or maybe they wouldn’t. But for me, it’s definitely my mother. The way she accepted and navigated life, no matter how hard it was, always with dignity and resilience. She taught me that you have to accept things and make the best out of them. She is my idol. I’ve never really looked up to famous people. Sure, I respect many people, but I would never idolize them. And yet, paradoxically, I understand why people might see me as a role model. Maybe it’s because I have something to offer—not just a pretty face, but real thoughts and real work. Still, I’m not trying to be a role model.
Do you think that nowadays it’s more about celebrating shared values rather than idealizing individuals?
I actually think it’s increasingly about idolizing the individual. There are more famous people now than ever before, and in some ways, anyone can become famous today. I predicted this in my 2018 thesis at Syracuse University in New York City. I also predicted that at some point, it would become cool not to be famous, to stay exclusive and private.
TUSH Magazine focuses on beauty standards and beauty culture. Do these topics connect to you and your work?
A poem I wrote speaks to that perfectly:
Dear Omer, I am the daughter of a man who turned waste into bread.
I learned the labor of heavy metal,
polishing it until my hands turned red.
I am the daughter of a man who taught me that even in the dust there is gold,
and that nothing is worth something …
To me, beauty lies in things others might dismiss as worthless—like dust or scrap metal. I transform them into something valuable, something beautiful, something people can connect with, even if they initially turned away from it. That shift in perspective is exactly what I’m aiming for.