Hide-the-Pain-Harold, Disaster Girl, Distracted Boyfriend – sie alle sind für Millennials und Gen-Z-Kids Ikonen der Meme-Kultur. Denjenigen Menschen, die immer noch nicht den Großteil ihres Lebens im Internet und vor allem in den sozialen Medien verbringen, ist es hingegen kaum möglich zu erklären, was ein Meme überhaupt ist. Jüngeren Menschen hingegen ist gar nicht klar, wie man den Alltag und den Irrsinn der Gegenwart ohne überhaupt aushält: Eine Jugend ohne Gott ist machbar, aber Jugend ohne Memes? Für die heutige Generation unvorstellbar.
Um diesen Gap zu überwinden, hilft nur Show, don’t tell. Memes versteht man, indem man Memes konsumiert, und sie werden immer lustiger, je häufiger und mehr man sich dasselbe Meme in unterschiedlichen Kontexten ansieht: Memes sind die vielleicht traditionsbewussteste Kunst- und Kommunikationsform im schnelllebigen digitalen Raum. Aber warum eigentlich?
Der Evolutionsbiologie Richard Dawkins hat 1976 den Begriff des Memes als „quasiparasitäre kulturelle Sinneinheiten, die sich in den Köpfen ihrer Träger einnisten, selbst gegen deren Willen“ geprägt. Die ewige Wiederholung, die Memes mit jeder Nutzung witziger macht, und ihr Suchtfaktor sind hier schon erwähnt. Allerdings hat Dawkins mit Memes alle möglichen Formen von kulturellen Codes gemeint, die auf Wiederholung und Viralität basieren, nicht nur das, was im Internetjargon als Meme bezeichnet wird: Bilder bzw. kurze Videoausschnitte, die mit einer Bildüberschrift versehen werden, die auf den ersten Blick überhaupt nicht passt, dann aber irgendwie doch, weil online eben Context over Content gilt: Sinn entsteht dadurch, dass Unzusammenhängendes nebeneinandersteht und von*vom User*in ein Sinn konstruiert wird. Das kann man banal oder beliebig finden. Es ist aber auch eine kreative Reaktion auf eine zunehmend als chaotisch und sinnlos empfundene Welt: Laut einer Bitkom- Umfrage von 2019 sind 37 Prozent aller 16–29-jährigen User*innen der Meinung, dass Memes Kunst sind.
Memes setzen an zwei Utopien des Internets aus den späten 1990ern, frühen 2000ern an: einmal, im virtuellen Raum eine komplett neue Wirklichkeit erfinden zu können, deren Urheber in der Anonymität bleiben. Die Idee, sich im Internet zur Marke zu machen und als solche eine möglichst große Sichtbarkeit anzustreben, kam erst mit Blogs und vor allem mit dem Siegeszug von Instagram auf. Kein Meme-Lord bzw. keine Meme-Lady, wie User*innen genannt werden, die besonders viele Memes erstellen, ist eine öffentliche (Online-)Berühmtheit. Natürlich gibt es auch Meme-Seiten, die sich monetarisiert haben, wie zum Beispiel die Instagram-Seite alman_ memes2.0, die Memes über deutsche Neurosen postet; in aller Regel werden Memes aber anonym produziert und verbreitet, ohne dafür als Creator Ruhm und Ehre zu erwarten. Ein viral gegangenes Meme ist Ehre genug. Zweitens zelebrieren Memes das Zufallsprinzip und die Freiheit, der Kreativität freien Lauf zu lassen. Bilder aus der Kunstgeschichte, aus der politischen Gegenwart, aus Reality-TV- Serien der 90er, aus Stockfotos oder auf Illustrationen, die auf Microsoft Paint entworfen zu sein scheinen, werden auf alle erdenklichen Situationen unserer Gegenwart übertragen und als Erklärungsmuster angeführt. „Hide- the-Pain-Harold“, der ältere Herr, der auf zahlreichen Stockfotos in Alltagssituationen leicht gequält grinst, ist in Wirklichkeit ein ungarischer Ingenieur in Rente, der von einem Fotografen auf einem Urlaubsfoto entdeckt wurde und lange Zeit gar nicht wusste, dass er eine Internetberühmtheit und Identifikationsfigur für alle möglichen Situationen geworden ist, in denen wir uns awkward fühlen. Dabei sind Memes oft umso treffender, wenn es sich um mehr oder weniger historische Bilder handelt: Ein Foto von Angela Merkel aus dem Jahr 2018, auf dem sie mit versteinerter Miene und einem Weißweinglas den Balkon des Bundeskanzleramtes langschlurft, wurde im zweiten Pandemiejahr 2021 zum Symbolbild für die allgemeine Erschöpfungsstimmung. Die tröstende Moral der Archivbilder: Früher war auch nicht alles besser.
Memes dienen also nicht nur der Unterhaltung, sondern auch als Coping Mecanism, um auf eine zunehmend als absurd empfundene Realität oder konkrete Ereignisse wie die Covid- Pandemie oder den Ukraine-Krieg zu reagieren. Denn der Ursprung des Wortes „Meme“ geht nicht auf ein evolutionsbiologisches Prinzip der viralen Verbreitung, sondern auf das griechische Wort mimesis, Nachahmung, zurück, das insbesondere durch seine Interpretation seiner Rolle im Theater in Aristoteles’ Poetik kulturgeschichtliche Bedeutung bekommen hat. Aristoteles ist der Auffassung, dass die Nachahmung der Realität im Theater den Menschen ermöglicht, sich von ihren Gefühlen und Ängsten zu reinigen und so die Realität zu verarbeiten. Was im echten Leben verstörend und beängstigend erscheint, ist in der Kunst erträglich: So funktioniert die Katharsis. (Bei Aristoteles erfolgt die allerdings durch die Tragödie und nicht durch Humor.) Gerade die starken Emotionen und die Überidentifikation, die durch Mimesis hervorgerufen werden, unterstützen diese Katharsis. Es verwundert also nicht, dass Memes oft Worst-Case- Szenarien beschreiben und einen schwarzen Humor bedienen, der den Nicht-Meme-Konsument*innen makaber und unpassend erscheinen kann. Meme-Liebhaber*innen hilft er, mit einer Situation umzugehen.
Dabei sind Memes nicht nur hilfreich bzw. harmlos: Zahlreiche Untersuchungen haben sich mit der Frage beschäftigt, inwiefern Memes Kommentare auf das politische Zeitgeschehen sind oder auch zu Propagandazwecken genutzt werden können. So hat Donald Trump im Wahlkampf 2016 gezielt Memes eingesetzt, um Hillary Clinton als Dämonin darzustellen. Das Theatrale und Spielerische von Memes kann hier gefährlich werden: Ist doch alles nur Spaß, wenn Clinton als Teufelin dargestellt wird und ihre Vernichtung gefordert wird! Aber das Bild setzt sich durch die ständige Wiederholung fest, ebenso wie die emotionale Reaktion auf Memes. Je mehr man davon konsumiert, desto mehr geht auch das Bewusstsein darüber verloren, dass es eben keine 1:1-Abbildung von Realität ist, sondern eine Übertreibung. Die Funktionsweise von Memes ist außerdem so komplex, dass KI-basierte Software zwar Hatespeech halbwegs verlässlich identifizieren kann, mit der Kreativität und Komplexität von Memes aber überfordert ist.
Dabei fing alles so harmlos an: Als erstes Meme gilt die 3D-Anima- tion „Dancing Baby“ von 1996, die ursprünglich nur ein Testballon für die „Character Studio“-Software war. Als das „Dancing Baby“ Anfang der 2000er viral ging, konnte noch niemand ahnen, wohin die Meme-Kultur sich entwickeln würde. Wie so viele Internetphänomene sind auch Memes aus einem spielerischen, kreativen Impuls entstanden und anschließend in unvor- hersehbare Richtungen entgrenzt. Die Website knowyourmeme.com versucht, die Meme-Kultur enzyklopädisch aufzuarbeiten und Memes, die mittlerweile in Vergessenheit geraten sind, zu archivieren: Wer heute noch „Grumpy Cat“ kennt, gehört wohl eher zu den Digital Geriatrics. Aber wer weiß: In einem unvorhersehbaren Moment, in einem völlig absurd erscheinenden Kontext, wird „Grumpy Cat“ möglicherweise eines Tages wie der Meme-Phönix aus der Asche wieder zu neuem Ruhm gelangen.