LIFE IN A BOX

„Untouched“ heißt das neue Buch über Guy Bourdin und das zeigt den einflussreichen Fotografen von einer bisher unbekannten Seite

Life in a box

Wahre Schätze liegen häufig im Verborgenen. Und deswegen beginnt die Geschichte von „Untouched“ weder mit Bourdins Werken, noch mit einer langen Einleitung – sondern mit dem Ausschnitt einer gelben Kodak Box auf dem Buchumschlag. Es ist ein Abbild der kleinen Kiste, die Autorin Shelly Verthime ganz zufällig in einer Ecke im Pariser Archiv des Fotografen findet. Ihr Inhalt: 100 unbeschriftete Briefumschläge, jeder gefüllt mit einem noch ungesehenen schwarz/weiß Negativ.

Das war 2011, sechs Jahre später halten wir den ersten Teil einer Serie gedruckt und gebunden in den Händen. „Untouched“ zeigt Bourdins Werke aus den Jahren 1950 bis 1955. Es sind die ersten Aufnahmen nach seiner Rückkehr als Kriegsfotograf in Dakar. Von den glamourösen Modeinszenierungen, die er später bei Vogue und Harper’s Bazaar veröffentlichen wird, ist Bourdin noch weit entfernt. Stattdessen führt er uns mit seinen Fotografien direkt in das Leben auf den Pariser Straßen, Jahrmärkten, Cafés und Ateliers und zeigt ein persönliches Portrait der Stadt.

Ob eine Umarmung, eine Unterhaltung oder eine zurückgelassene Puppe ohne Arme – jeder festgehaltene Moment erzählt eine Geschichte. Die Hauptperson ist häufig nicht im Zentrum, sondern wird erst bei genauem Hinsehen sichtbar: vielleicht im Spiegelbild einer Fensterscheibe, als kleiner Schatten oder dezente Linie am Bildrand. Bourdin selbst scheint Teil des Erlebnisses, seine Kamera ein unbemerkter Zeuge.

Die vielen Details machen die Geschichten in seinen Aufnahmen lesbar wie Buchstaben einen Text. Mal sind sie gutleserlich, mal rätselhaft. Seine Handschrift an sich ist leicht wiederzuerkennen: der Blick für das Besondere, der Hang zum Surrealen und die ungewöhnlichen Bildausschnitte, die Raum für Interpretation lassen.

Die letzten Seiten des Buches wandern von natürlichen Portraits in Richtung inszenierte Modefotografie. Bourdin setzt auch auf diese seine Signatur und fügt zusammen, was nicht zusammengehört: luxuriöse Haute-Couture vor aufgeschnitten Kaninchen, einem Kamel oder unter langen Kuhzungen. „Untouched“ ist kein Coffeetable-Buch, bei dem nach einmal Durchblättern alles gesehen ist. Wirkliche Entdeckungen findet nur, wer es mehrmals in die Hand nimmt – und das ist übrigens ab sofort möglich.

[Text]
Julia Rau
[Bilder]
Guy Bourdin, Untouched, Steidl Verlag
August 31, 2017
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