NAILED

Eine kräftige Hand mit spitz gefeilten, glänzend lackierten Fingernägeln greift nach Geldscheinen: Es ist das ikonische Foto von Helmut Newton „Fat Hand and Dollars, Monte Carlo 1986“, das den scharf satirischen Blick des Starfotografen auf die Glitzerwelt der Neureichen und Luxussehnsüchtigen im Monte Carlo der berüchtigten 1980er-Jahre verrät. Nicht nur, dass sie ihren Reichtum protzig demonstrieren, die exzessiv manikürten Nägel stellen auch ein krasses Symbol ihres privilegierten Status dar: Was können solche „übergepflegten“ Hände denn sonst, außer nach Geld zu schnappen?

Der Brauch, sich lange Nägel wachsen zu lassen und zu färben, reicht Jahrtausende zurück und erzählt uns Geschichten von Herrschaft und sozialer Ungleichheit, aber auch von Rebellion, Aufbegehren und eigenwilligem Selbstausdruck.

Die Entstehung der Maniküre lässt sich nicht auf eine Kultur zurückführen. Den Chinesen wird zugeschrieben, 3000 v. Chr. den ersten „Nagellack“ hergestellt zu haben. Es ist übermittelt, dass in der Ming-Dynastie (1368–1644) Adlige außergewöhnlich lange Fingernägel trugen, die manchmal mit gold- und juwelenbesetzten Fingerhüten geschützt waren. Diener mussten ihre Herrscher füttern, anziehen und andere sehr persönliche Aufgaben erledigen, damit sie sich nicht die Nägel brachen. Sie wurden mit einer Kombination aus Eiweiß, Gelatine, Bienenwachs und Farbstoffen aus Blütenblättern gefärbt und glänzten in einem rötlichen Rosaton als unverwechselbares Zeichen der Distinktion. Bereits in antiken Kulturen stellte die soziale Bedeutung langer, rötlich leuch- tender Nägel eine Konstante dar: Sie waren stets den Eliten vorbehalten, denn lange, gefärbte Nägel bedeuteten schon immer die Freiheit von Handarbeit.

In der westlichen bürgerlichen Kultur war dagegen farbiger Nagellack bis zum frühen 20. Jahrhundert sehr ungewöhnlich, sogar verpönt. Stattdessen galten makellose Hände mit weißen und regelmäßig geformten Nägeln als Teil einer gesamten Körperästhetik, die vor allem moralische Reinheit spiegeln sollte. Sie waren nicht zufällig ein Statussymbol für Damen der wohlhabenden Oberschicht: Gustave Flaubert beschreibt Emma Bovarys Nägel als „glänzend, zart an den Spitzen, polierter als das Elfenbein von Dieppe und mandelförmig geschnitten“.

Das Ritual der „unsichtbaren“ Maniküre blieb bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ein elitärer Zeitvertreib für Bürgerliche, denn lackierte Fingernägel galten als vulgär und als klares Signal der Zugehörigkeit zur „unteren Klasse“. Noch in den 1920er-Jahren waren Frauen, die mit Nagellack experimentierten, meist Showgirls, mutige Arbeiterinnen und Prostituierte. Erst in den 1930er-Jahren – während der Weltwirtschaftskrise – wurde Nagelkosmetik wirklich populär; es war jetzt jeder Frau möglich, sich ein bisschen Hollywoodglamour anzueignen. 1929 im Jahr des Börsencrashs erlebte Amerika den „Urknall der modernen Maniküre“, so beschreibt es die Kulturwissenschaftlerin Suzanne E. Shapiro in ihrem lesenswerten Buch, 2014 erschienen: „Nails. The Story of the modern Manicure“. Im Sommer 1929 blickte die amerikanische Modepresse aufmerksam auf glamouröse Repräsentantinnen der sogenannten Café-Society in Europa, die der Wirtschaftskrise trotzten und sich mit tiefrot lackierten Nägeln in der Öffentlichkeit zeigten.

Zu betonen ist dabei, dass mit jenem Schönheitsritual, das stets als weiblich frivol betrachtet wird, brisante Themen unserer Gegenwart eng verbunden sind, wie Geschlecht, Sexualität, Rassendiskriminierung und körperästhetische Codes. „Nagelmode und sich wandelnde Weiblichkeit sind tatsächlich miteinander verschränkt“, bestätigt Shapiro in ihrem Buch. „Zum Beispiel waren in den scheinbar stabilen 1950er-Jahren perfekt lackierte, korallenrote Nägel ein zentraler Aspekt des hyperfemininen, konformistischen Schönheitsideals dieser Ära, während die dezente French Manicure zum Markenzeichen der Karrierefrauen der 1980er-Jahre wurde.“

Es ist allerdings kein Zufall, dass in der westlichen Welt der 1950er-Jahre, die zwischen bürgerlichem Wohlstand und unterschwelligen sozialen Konflikten schwankte, Acrylnägel auftauchten (erfunden von einem Zahnarzt!) und rasch von afroamerikanischen Frauen als Zeichen ihres eigenwilligen Stils übernommen wurden. Donyale Luna, das erste schwarze Model auf dem Cover der Vogue im Jahr 1966, trug Nägel in Acrylfarben. Und in den 1970er-Jahren dominierten Donna Summer, Diana Ross und Millie Jackson die Disco-Charts: Ihre leuchtend roten Acrylnägel standen für das neue Selbstbewusstsein afroamerikanischer Frauen.

Dann trat aufs Parkett: „Flo Jo“. Als bei den Olympischen Spielen in Los Angeles 1984 die Läuferin Florence Griffith-Joyner (selbst eine ehemalige Nageldesignerin) die Goldmedaille gewann, schwang sie dabei ihre mehrfarbig lackierten, ungewöhnlich langen Nägel: Sie erregten mehr internationale Aufmerksamkeit als ihre sportlichen Fähigkeiten. Immer wieder wurde in Artikeln über Griffith-Joyner auf ihre schillernden Nägel verwiesen, die stets frech bemalt passend zu ihrer Laufbekleidung erschienen. Warum? Die Frauenforscherin Miliann Kang, Autorin des Bandes „The Managed Hand: Race, Gender und the Body in Beauty Service Work“, bringt es auf den Punkt: „Zu jenem Zeitpunkt standen French Manicure und Pastellfarben für weiße, bürgerliche, heteronormative Schönheit. Lange, modellierte, mit Airbrush bearbeitete Fingernägel hingegen waren Zeichen von Blackness, sexueller Abweichung und marginalisierter Weiblichkeit.“ Griffith-Joyners Körperinszenierungen brachen die Regeln des vorherrschenden „guten Geschmacks“ und offenbarten, dass ein auffällig lackierter Nagel viel mehr ist als ein lackierter Nagel, nämlich ein Politikum! Die berühmte Tennisspielerin Serena Williams hat sich nicht zufällig in die Tradition ihrer grenzüberschreitenden „Schwester“ eingereiht: Mit der offensiven Vorführung ihres Nagel-Looks – juwelenbesetzt, extravagant und übertrieben – verwahrt sie sich als selbstbewusste Afroamerikanerin gegen jegliche eurozentrische Erwartung von Dezenz.

Nail-Design entwickelte sich in den 1990er- und 2000er-Jahren in der schwarzen Kultur weiter, nicht zuletzt dank Rapperinnen wie Missy Elliott und Lil’ Kim, die mit Acrylnägeln auftraten und sie populari- sierten. Von da an war es ein kurzer, wenn auch nur allzu vertrauter Weg zur kulturellen Aneignung und Verbreitung in der Popkultur. Nagelinfluencer*innen haben heute in Social Media Zehntausende von Followern, Nageldesigner*innen, wie beispielweise Jenny Bui, sind Nagelstylisten für Stars, und auf den Spuren von Rebellen wie David Bowie und Lou Reed finden auch Männer wie Bad Bunny und Harry Styles in der Maniküre – unabhängig von ihrer Geschlechtsidentität – eine Form des Selbstausdrucks.

„Auf der einen Seite gibt es das anhaltende Mainstreaming der Hip-Hop-Ästhetik und den Aufstieg der Promikultur, mit Leuten wie Cardi B, die ihre Stiletto- Nägel als Zeichen weiblicher Ermächtigung zu ihrem Markenzeichen gemacht hat. Und auf der anderen Seite gibt es riesige Innovationen in der Nageltechnologie, die hauptsächlich aus Asien kommen“, stellt Shapiro fest. Einen solchen Fortschritt stellen die After-Gel-X-Kits dar, die laut der japanisch-amerikanischen Nagel- künstlerin Mei Kawajiri neue Möglichkeiten für die Modellierung der Nägel eröffnet haben. „Sie können an jeden Nagel angepasst werden und sind nicht so schwer zu verarbeiten wie Acryl“, bemerkt sie über die dünnen formbaren Spitzen, die in Japan entwickelt wurden. „Das Gel lässt sich schnell auftragen, und man kann damit unendlich spielen und vielfältig modellieren.“ Unter diesen neuen Impulsen ist Nageldesign zu einer neuen Kunst erhoben worden. Nail-Artists wie Lisa Mård in Berlin oder Sophie Parkinson in London erweitern immer kühner die Grenzen: Sie entfernen sich immer mehr von einer traditionellen Ästhetik und verwandeln die Nägel mit dem Einsatz von ungewohnten Materialien und Texturen in Skulpturen, als ob die Nägel sich vom Körper aus Fleisch und Blut trennen, um zur metaphysischen künstlerischen Abstraktion zu werden.

Jenseits der opulenten und exzentrischen Kunst, welche die Finger von Dragqueens und Hip-Hop- Stars schmückt, ist die Maniküre als körperästhetische Praktik ein bedeutendes Ritual unserer Gegenwart. Nach der Coronakrise scheint sich die Liebe zur Nagelpflege intensiviert zu haben: Eine Maniküre bedeutet eine zuverlässige Veränderung des eigenen Aussehens und ist nicht wie eine Wundercreme, die verspricht, schlanker oder jünger zu werden. Sie erlaubt, mit dem eigenen Selbstbild zu spielen und in eine andere zu Identität zu schlüpfen: ein eigen- williges, verwöhnendes Pflegeritual, unabhängig von Körperform und Alter.

FIN

Text MARISA BUOVOLO

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