Dora Goldsmith rekonstruiert Gerüche und Düfte – und zwar jene aus dem Leben des antiken Ägypten von vor rund 5000 Jahren. Sie erforscht, welche Stellung Duft und Geruch in der Kultur und Gesellschaft hatten – und macht ihr Wissen in Workshops und mit Smell-Kits für uns alle erlebbar.
TUSH: Eines vorab, was faszinierte dich ausgerechnet an der Archäologie und Ägyptologie?
DORA GOLDSMITH: Das habe ich mir nicht ausgesucht, es hat mich gefunden. Das war immer meine Leidenschaft, schon als kleines Kind! Meine Mutter erzählt, dass ich immer wie hypnotisiert vor dem Fernseher saß, wenn eine Sendung über das alte Ägypten lief. Da war selbstverständlich, als ich dann 18 wurde, dass ich Ägyptologie studieren werde.
Und auch aus Ungarn, wo du geboren bist, nach Israel zu gehen?Das war praktisch, weil man, wenn man Archäologie und Ägyptologie studiert, die verschiedenen Ausgrabungsstätten gleich vor der Tür hat. So habe ich an der Hebräischen Universität Jerusalem klassische Archäologie und Ägyptologie und Assyriologie studiert. Dann habe ich mich entschieden, für den Master nach Deutschland zu kommen.
Warum ist Deutschland für die Ägyptologie interessant?
Die deutsche Sprache ist für die Ägyptologie eine sehr wichtige, wenn man Ägyptologe sein möchte, kann man das nicht ohne Deutschkenntnisse. Ursprünglich wollte ich nur zwei Jahre hier sein, für mein Masterstudium, aber jetzt sind es zehn Jahre geworden. Und ich arbeite an der Promotion, also schreibe die Dissertation.
Wie kamst du denn dann darauf, die Düfte des alten Ägypten zu rekonstruieren?
Angefangen hat es damit, dass ich die Texte, die ich aus dem Ägyptischen übersetzte, besser verstehen wollte. Um die Wahrnehmung der Atmosphäre der damaligen Zeit zu steigern, habe ich angefangen, die in den Schriften erwähnten Düfte zu rekonstruieren. Ich arbeite mit schriftlichen Quellen eines Zeitraums von rund 4000 Jahren, in dieser Zeitspanne gab es ganz verschiedene Sprachen wie Altägyptisch, Mittelägyptisch, Ramessidisch oder Neuägyptisch, Demotisch, Ptolemäisch und Schriftweisen, Hieroglyphen, Hieratisch. Ich habe angefangen, Duftstoffe zu sammeln. Wenn man mit den Sinnen arbeitet, muss man es doch erleben; es geht dabei nicht um meine, sondern um die Geruchswahrnehmung damals.
Inzwischen stellst du deine Arbeit online in Smell-Kits* zur Verfügung.
Zuerst habe ich die Rekonstruktionen bei meinen Vorträgen benutzt, schlicht als ein Lernmittel. Das kam bei den Leuten sehr gut an. Dann habe ich Workshops angeboten, und schließlich habe ich die Kits zusammengestellt, die man kaufen kann.
Wie funktioniert das genau?
Du bestellst ein Kit bei mir persönlich online – anfangen würde ich beispielsweise mit KYPHI oder ANCIENT EGYPTIAN KIT. Und dazu gibt es einen Artikel, den ich geschrieben habe, und beim oder zum Lesen hast du die verschiedenen Materialien – Riechen als zweite Ebene des Verstehens. Acht verschiedene Kits gibt es inzwischen.
Stimmt mein Eindruck, dass die Bestandteile gar nicht so sehr von denen abweichen, die wir heute in der Parfümerie nutzen?
Nicht alles wird heute noch verwendet. Einige benutzen wir nicht oder nicht mehr, weil sie Allergien hervorrufen können. Ich war bei manchen Duftstoffen aber durchaus sehr überrascht, dass die Ägypter den Geruch oder Duft an sich ganz anders wahrgenommen haben als ich. Zum Beispiel Kampfer war für die Ägypter sehr, sehr attraktiv, sie haben ihre Kleidung in Kampferöl getränkt …
Um attraktiv zu wirken?
Um attraktiv zu wirken. Der Geruch ist für mich nun überhaupt nicht sexy. Ich assoziiere eine ganz andere Sinneswahrnehmung damit.
Für uns riecht Kampfer nach Erkältung, Husten …
Der Geruch hat etwas mit Krankheit zu tun. Als ich Kind war, hat mir meine Mutter Lutschtabletten mit Kampfer gegeben, aber das muss ich bei meiner Arbeit vergessen, das ist meine moderne Wahrnehmung – und die hat dabei ja nichts zu suchen!
War denn der Grund für die Beliebtheit, dass der Geruch für die Ägypter etwas mit Sauberkeit, Gesundheit, Reinheit zu tun hatte?
Ich glaube schon, auch. Und es war für sie ein sehr wertvoller Duft, der aus dem Ausland kam, hochwertig, so viel wert wie Silber und Gold. Überraschend war auch, dass Weihrauch und Myrrhe als göttliche Düfte bezeichnet wurden. Aber warum göttlich?
Im Christentum kennt man es aus der Weihnachtsgeschichte …
Es wurde für die Einbalsamierung verwendet, für bestimmte Feierlichkeiten, da haben sie Myrrhe verwendet. Da fragt man sich, warum? Warum war ein bitterer Geruch der Duft der Festivitäten? Die Antwort ist, Myrrhe ist antibakteriell, stark reinigend und äußerst geschätzt und wertvoll. Er war schwer zu bekommen, Myrrhe wuchs nicht in Ägypten.
3000 bis 5000 Jahre alte Begehrlichkeiten ...
Das gilt erst recht für den blauen Lotus! Als ich den zum ersten Mal gerochen habe, war ich sehr überrascht, wie angenehm das riecht. Okay, in den Schriften steht häufig etwas über den angenehmen Duft der Lotusblume, aber trotzdem war es dann überraschend, wie angenehm es wirklich riecht. Sehr edel, nicht so stark wie Harze, wie Weihrauch, eher zurückhaltend, elegant. Ein Duft, den man gern den ganzen Tag um sich haben könnte.
Und welche Bedeutung hatte der blaue Lotus?
Es war der wichtigste Duft überhaupt! Die Ägypter glaubten, Lotus sei ein olfaktorisches Symbol für das ewige Leben. Der Grund ist, dass die Lotusblume jeden Tag untertaucht und morgens an die Wasseroberfläche kommt und sich öffnet. Dieser Zyklus erinnerte die Ägypter an den Zyklus der Sonne, einen Zyklus, der nie aufhört; und wenn sie Teil des Zyklus wären, würden sie ewiges Leben haben. Sie wollten sich diesem Zyklus anschließen!
Geruch übt einen Sog aus, wenn man einmal anfängt, will man immer tiefer eintauchen, oder? Bist du sowieso ein Nasenmensch?
Ich glaube schon, zumindest bin ich schon immer geruchsempfindlich gewesen und meine Nase ist aufmerksam! Meine Recherche hat meine Nase noch mehr geöffnet.
Je mehr man mit der Nase arbeitet, desto besser wird sie?
Ja, man kann sie sehr gut trainieren und: Wenn man mit der Nase arbeitet, bekommt man Informationen über die Welt. Ich bemerke wirklich so viel, ich bekomme so viele Informationen über den Geruchssinn. Zum Beispiel war ich vor einiger Zeit mit einer Freundin unterwegs, wir sind nur so rumgelaufen und haben uns gesagt, wenn eine Bar auftaucht, gehen wir da was trinken. Wir kannten die Gegend gar nicht. Aber mir war klar, in dieser Straße gibt es eine Bar! Obwohl ich es nicht wirklich wusste, aber ich roch Bier! Das war eine unendliche Straße und ganz am Ende gab es eine Bar.
Und was interessiert uns heute an den Gerüchen einer längst versunkenen Welt? Was haben wir heute davon, wenn wir wissen, wie es am Nil vor 4000 Jahren gerochen hat?
Also erst einmal hat das noch niemals jemand vorher erforscht; ich bin die Erste, die diese Recherche macht. Es ist ein wichtiger Teil der altägyptischen Kultur und dadurch, dass wir diesen Teil nie erforscht haben, kennen wir einen sehr wichtigen Teil der Kultur nicht. Für die Ägypter war Geruch sehr wichtig. Und wir, als Forscher, ignorieren diesen Aspekt und damit ignorieren wir einen ganz wichtigen Teil der Kultur. Und das kann nicht so bleiben! Und wenn man diesen so wichtigen Sinn erforscht, versteht man plötzlich einen Satz in einem Text, den man vorher einfach nicht begreifen konnte. Und das ist mir durchaus passiert, dass ich bei einem sehr gut bekannten Text plötzlich eine neue Brille aufhatte. Und plötzlich verstand ich den Text anders.
Nahmen die Ägypter denn die Welt anders wahr als wir?
Absolut, sie hatten ganz andere Duftmetaphern, sie nahmen die ganze Welt vollkommen anders durch die Gerüche wahr. Und außerdem ist es natürlich immer interessant, warum eine Kultur einen Sinn ganz anders behandelt. Und die Frage ist, warum?
Ja, warum denn? Wie haben sie Düfte behandelt?
Sie hatten eine olfaktorische Hierarchie, mit den Düften haben sie kommuniziert, zum Beispiel dass jemand eine höhere Stellung hatte. Sie haben Düfte verwendet, um Status zu signalisieren oder Reichtum oder auszudrücken, „ich bin anziehender als du“. Eine sehr starke Kommunikation durch Duft!
War denn auch die Sprache der Ägypter reich an verschiedenen Ausdrücken für Geruch oder Duft?
O ja, es gab viele Ausdrücke und Wörter für Düfte; sie haben es ganz genau beschrieben: Es gab ein neutrales Wort für Geruch sTi, für Stinken xnS, für schönen Duft sTi nfr, angenehmer Duft oder süßer Duft hatte einen eigenen Ausdruck sTi nDm, es gab den göttlichen Duft sTi nTr; nur die Könige durften diesen Ausdruck verwenden, der König war ja auch ein Gott.
Wenn du jetzt bei deiner Arbeit tief eintauchst und die Augen schließt, kannst du dir vorstellen, wie es am Ufer des Nil roch?
Das ist eine gute Frage! Nein, ich glaube nicht, dass ich es 100-prozentig hinbekomme. Dass ich weiß, wie es wirklich dort am Nil gerochen hat? Ich kann mir nur das vorstellen, was ich rekonstruiert habe, und das wird wohl nie vollständig sein, nicht die gesamte Geruchslandschaft in jeder Epoche abbilden. Was ich sagen kann, es hat überall gerochen, und zwar sehr stark.
Auch nach dem Mendesischen Parfüm, das auch im National Geographic Museum in Washington, D. C., ausgestellt wurde und als Kleopatras Duft oder Chanel N° 5 der Antike bezeichnet wird? Gefällt dir so eine Bezeichnung?
Warum nicht? Wenn die Leute es passend finden, diese Vergleiche anzustellen. Irgendwie stimmt es ja auch. Das Mendesische war das wichtigste Parfüm der Antike, ein olfaktorisches Wahrzeichen der Spätantike, insofern kann man es sagen.
Und wonach roch es?
Unter anderem nach Moringaöl, Myrrhe, Pinie, Zimt …
Der Megaseller im späten Ägypten?
Ja!
Und die Kunst der Parfümherstellung kommt doch eh daher?
Natürlich! Und meine Arbeit ist nicht nur ägyptologisch, es ist ein interdisziplinäres Thema! Ich habe Kontakt mit Parfümeuren und Künstlern, mit dem Geruchsforscher, Biologen, Mediziner Prof. Dr. Dr. Dr. med. habil. Hanns Hatt, mit Chemikern, ich habe gelernt, wie der Geruchssinn biologisch und psychologisch funktioniert, und vieles mehr.
Gibt es einen Geruch, eine Duftrichtung, die du gefunden hast, die du für dich in dein Leben aufgenommen hast?
Ich mag alle diese Düfte sehr, aber ich mache ja auch diese Workshops und assoziiere diese Düfte mit meiner Forschung, ich will meine Forschung also nicht auf meiner Haut tragen. Aber: „KYPHI“ ist aktuell mein Favorit, ein Räucherstoff, der sehr komplex ist, er hat 11 Bestandteile und ist sehr intensiv. Es ist für mich der Duft des Waldes.
Würdest du sagen, die Ägypter waren uns – der heutigen modernen, westlichen Welt – geruchstechnisch Jahrtausende voraus?
Unbedingt! Wir haben viele ihrer Fähigkeiten verloren, vielleicht lernen wir von den Ägyptern von vor 5000 Jahren, dass wir wieder unsere Nase öffnen, unseren Geruchssinn mehr benutzen. Düfte können so viel, kommunizieren so viel. Die Ägypter wussten, dass Erinnerung und Duft verbunden sind, sie waren so geruchsempfindlich, dass sie wussten, dass bestimmte Krankheiten einen bestimmten Geruch haben. Beispielsweise bei der Einbalsamierung ging es natürlich auch um die Konservierung und darum, den Gestank zu überdecken. Aber vor allem ging es um folgende Kommunikation: Im nächsten Leben, im ewigen Leben, ist alles perfekt, das heißt, du solltest dort ankommen und gut riechen, und zwar göttlich. In deinem Leben im Diesseits war es dir nicht gestattet, die sieben oder zehn heiligen Öle zu verwenden, aber nun, wenn du im nächsten Leben ankommst, darfst auch du göttlich sein!
Du hältst weltweit Vorträge und Workshops – wie hat sich deine Arbeit im letzten Jahr verändert?
Als die Pandemie anfing, dachte ich, okay, es ist jetzt für eine Weile vorbei. Doch eine Freundin und mein Vater haben mich darauf gebracht, Onlinevorträge und Workshops zu geben. Es hat einen gemeinsamen Raum gebildet, sehr intensiv, ganz viele Leute aus der ganzen Welt aus Australien, aus Japan, USA, Kanada, Deutschland, Frankreich, Spanien, Portugal, England, Israel, Oman, Kuwait, Brasilien sind alle zusammen gleichzeitig da, egal ob es dort 3 Uhr morgens und hier 6 Uhr abends ist. Dann haben die Leute meine Kits bestellt und zu Hause Düfte rekonstruiert! Sie waren sehr dankbar, es hat ihnen geholfen, eine neue Leidenschaft zu entwickeln.
Und haben sie es als Bereicherung empfunden?
Ja! Und dass es ihnen einen ganz neuen Horizont eröffnet! Ein wirklich schönes Ergebnis. Ich glaub schon, dass ich es beibehalten werde. Egal wo du bist, du kannst mit uns sein. Eine Frau war dabei, die sich vom Dschungel in Mexiko zugeschaltet hat.
COLLAGE – CASEY KAUFMANN
INTERVIEW – SUSANNE OPALKA