Worte auf die Goldwaage - im Gespräch mit Künstlerin Sarah Feingold

Ihr Instagram Feed hypnotisiert uns mit seinen fließenden Farbverläufen und verleitet User*innen zum endlosen Scrollen durch ihre explorative Kreativwelt. Sarah Feingold fällt in Zeiten stark unterbelichteter Feeds, die ausschließlich durch eine monochrome Klaviatur von Beige- und Cremetönen bestechen, auf – sie bekennt Farbe! Das Anderssein abseits des Mainstreams bringt Feingold allerdings nicht ausschließlich visuell auf Instagram zum Ausdruck, nein – in ihrem Onlinemagazin mit dem Akronym  ́NBGA` – No Basic Girls Allowed adressiert das marokkanisch-deutsche Model und Multitalent, Kreatives aus den Bereichen für alle die, die sich ungehört oder nicht ausreichend repräsentiert fühlen. Im Interview mit der Wahl New Yorkerin sprechen wir über Inspirationsquellen, eine Industrie, die weiterhin am Thema Repräsentation und Diversität arbeiten muss und ihre Beauty Prognosen, die sicher Gold wert sein werden.

TUSH: Model, Meinungsführerin und Künstlerin – welcher Begriff beschreibt dich am ehesten oder gibt es einen ganz anderen, wenn du Fremden von deiner Profession erzählst?

Sarah: In erster Linie würde ich mich als Künstlerin bezeichnen. Es ist so ein begrüßender Begriff – er fühlt sich an wie eine Umarmung, die uns gleichzeitig den Raum gibt, so zu sein, wie wir sind. Zum Modeln bin ich durch meine eigenen künstlerischen Projekte gekommen. Wenn ich Ideen für Shootings bekam, oder ich schnell einen neuen Make-up-Look zum Leben erwecken wollte, dann machte ich es einfach selbst. Ich war sozusagen meine Muse auf Abruf. Es macht wahnsinnig viel Spaß, diese kreative Kommunikation mit mir selbst zu haben. Ich trage gerne mehrere Hüte (buchstäblich und sprichwörtlich) und bin in jedem Aspekt dessen, was ich zusammenstelle, involviert. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich mich in beiden Rollen ausleben kann und für die Chance, an so vielen spannenden Projekten mitzuwirken. Ich habe die Möglichkeit mit anderen Künstlern und Kreativen aus der ganzen Welt zusammenzuarbeiten und bin immer noch genauso aufgeregt und leidenschaftlich bei allem wie zu Beginn. Egal ob vor oder hinter der Kamera.

TUSH: Tatsächlich deckt der Begriff Künstlerin so viele Disziplinen ab: das Schreiben, das Modeln, das Erschaffen von Bilderwelten. Welche Bereiche im Beauty und Fashion Kosmos würden dich zukünftig noch reizen?

Sarah: Schöne Frage! Ich habe dieses Jahr meinen ersten Kurzfilm ‘Fly or Die’ veröffentlicht, dessen Produktion gleichermaßen erfüllend wie herausfordernd war. Ich habe mir mit diesem Projekt quasi ein neues Genre geschaffen, in dem ich mich kreativ ausleben kann; eine dreidimensionale Neuinterpretation des Standard-Beauty-Tutorials. Meine Ideen brachten mich dazu, die klassischen „Show and Tell“-Elemente eines Beauty-Tutorials mit filmischem Storytelling zu verbinden. Charaktere in einer fiktiven Welt, deren Handlungsstränge sich überschneiden, ergänzen und gegenseitig beleben. Im Wesentlichen eine Verschmelzung von Kino und dem klassischen Step-by-step-Tutorial – ich nenne es Cinetorial. Das treibt mich derzeit am meisten an. Ich liebe, liebe, liebe es neue Ideen zum Leben zu erwecken und genieße meine Zeit hinter der Kamera. Ich kann immer noch nicht glauben, dass eines meiner ersten Foto Editorials in der diesjährigen September Ausgabe der amerikanischen Vogue veröffentlicht wurde. Zwick mich! Es ist ein völlig anderes Gefühl, das Bild zu konstruieren und zu kontrollieren, als die Vision von jemand anderem zu verkörpern. Ich fühle mich gesegnet, dass ich die Gelegenheit bekomme beides zu tun, aber im Moment fühlt sich das Schaffen einfach so viel kathartischer an.

TUSH: Aufregend, diese Ambivalenz, die dein Job mit sich bringt! Auf NBGA zeigst du im Gegensatz zu vielen anderen Lifestyle Medien, die sehr eurozentrisch und weiß geprägt sind, eine diverse Reihe an weiblich gelesen Menschen und deckst dabei unterschiedliche Skin Complexions, Haartexturen und Körperformen ab – so progressiv sind leider immer noch wenige Magazine und Kommunikationskanäle von Marken. Wandel ist definitiv erkennbar – nicht zuletzt durch deine Pionierarbeit. Von meiner Warte als queere Person, sehe ich mich immer mehr und adäquater repräsentiert – da ist aber sicher noch Luft nach oben! Wo siehst du konkrete Stellschrauben, um die Industrie langfristig diverser und inklusiver zu gestalten?

Sarah: Ich finde, dass man als Publisher oder jeder, der in der Werbebranche arbeitet, eine gewisse Verantwortung hat. Schließlich können Menschen, insbesondere die jüngere Generation, durch unsere Worte und unseren Output beeinflusst werden. Besonders in Bezug auf die Schönheitsideale, die wir zum Konsum hervorheben. Ich denke, dass der Schaden, der durch das Ausbleiben einer vielfältigen und realistischen Repräsentation entsteht, einfach von den meisten unterschätzt oder überhaupt nicht ernst genommen wird. Und da spreche ich aus persönlicher Erfahrung. In meiner Kindheit galt immer noch die Barbie-Formel: Europid, blond und schlank war der Standard-Archetyp für weibliche Schönheit. Aber das hat nichts mit der Realität zu tun – es spiegelt nicht die Gesellschaft wider. Als mir die Gelegenheit geboten wurde NBGA zu einem seriösen Magazin zu entwickeln, wusste ich von Anfang an, dass ich die Menschen, mit denen ich mich umgeben wollte, einfangen und widerspiegeln wollte – und ich gehe noch weiter – ich habe es zu meiner Mission gemacht, POC hervorzuheben. Einfach, weil es genug nicht-inklusive Inhalte gibt, die ständig veröffentlicht werden. Wir haben einiges nachzuholen. Ich sehe riesige Chancen für Veränderungen in der Inklusivität. Treffen wir die großen Entscheidungen nicht nur vor der Kamera, sondern auch in Machtpositionen hinter den Kulissen. Denn egal wie empathisch ein Mensch ist – es wird nie möglich sein, die Realität eines Anderen wirklich zu sehen, fühlen, verstehen, geschweige denn sie nachzuerzählen. Echte Vielfalt kann nicht nachgeahmt oder angedeutet werden. Sie entsteht durch die Einzigartigkeit jedes Einzelnen.

TUSH: Danke für das Teilen deiner Gedanken! Sarah, du bist in Frankfurt geboren und aufgewachsen. In der Zwischenzeit hat es sich in andere Städte verschlagen. Frankfurt, Berlin, Paris, New York – Welche Stadt inspiriert dich am meisten?

Sarah: Das ist so schwer zu sagen! Ich kann nicht sagen, dass eine Stadt die andere völlig überwiegt. Ich bin froh, dass die Welt so groß ist und ich das Glück hatte, so viele unglaubliche Orte mein Zuhause nennen zu dürfen. Ich habe die Art von Seele, die so viel wie möglich von der Welt sehen möchte. Es inspiriert mich. Es pusht mich. Jede Stadt, in der ich gelebt habe, hat mir etwas Grundlegendes zurückgegeben – eine Philosophie, eine Geschichte, eine Chance, sogar eine Herausforderung – was auch immer es war, es hat mir geholfen, zu der Person zu werden, die ich jetzt bin. In puncto Inspiration liegt mir im Moment New York am Herzen. Die Vielfalt an Schönheit und Kultur hält mich immer frisch und aufgeschlossen. Deutschland wird immer meine Heimat sein und verkörpert definitiv den Anfang von allem. Ohne die Zeit in Berlin wäre ich nie nach Paris gegangen, und in Paris habe ich Lektionen gelernt, die für mich hier in New York elementar sind. Es geht alles Hand in Hand. Ich sehe es als das Drehbuch meines Lebens und versuche, einfach dem Fluss meiner Intuition zu folgen und dabei zu lernen.

TUSH: Wir wären nicht bei TUSH, wenn es nicht auch um Kosmetik und Beauty gehen würde. Nach einem heißen Sommer müssen wir uns auf eine neue Jahreszeit vorbereiten. Was sind deine Beauty-Favoriten für den Herbst?

Sarah: Ich habe im Gefühl, dass Lippenkosmetik einen besonderen Auftritt haben wird. Die Masken sind ab, die Schmollmünder sind raus – die perfekte Kombination für eine Renaissance der Lippenprodukte. Ombre-Lippenkombinationen werden in den kommenden Monaten der letzte Schrei sein. Ich kann es fühlen. Schwarz, Rot und Braun mit Glanz dominieren. Bisher habe ich mich mit meiner Beauty-Prognose nicht geirrt! Auch in meinem Kurzfilm haben wir mehrere dieser Lippenkombis kreiert und Schritt für Schritt visuell erklärt. Ehrlich gesagt freue ich mich einfach wieder ganze Gesichter im Alltag zu sehen. Menschen zu sehen, die ihren Alltag mit bunt geschmückten Gesichtern bestreiten, bereitet mir große Freude.

TUSH: Oh ja, das Experimentieren mit Farben und Texturen, wie du es beschreibst, macht absolut Lust auf mehr! Nun besteht die Realität des Herbstes in unseren Breitengraden nicht nur aus romantisch-goldenem Laub und everything Pumpkin Spice Latte. Was heitert dich aber an einem kalten, grauen und vielleicht sogar verregneten Tag auf?

Sarah: Weißt du was? Manchmal habe ich das Gefühl, dass die grauen, regnerischen Tage meine liebsten sind. Sie haben diese magische Wirkung, die uns in warmen Cafés oder Buchhandlungen vor Regen Unterschlupf suchen lässt, oder uns einfach zur Ruhe auf unseren heimischen Sofas zwingt, die wir alle so dringend brauchen. Ich nenne es „Auflade-Tage“. Ich weiß nicht, warum ich Gewitter so beruhigend finde. Die Welt geht auf „Nicht stören“ und so auch meinen Verstand und meine Seele. Es gibt mir Raum zum Atmen. An regnerischen Tagen fühle ich mich ruhig. Oft brauche ich nicht viel, um mich zu unterhalten, aber was meine Stimmung immer wieder aufhellt, sind gute Gespräche mit Freunden und Familie, ein Stück Streuselkuchen zum Tee, Musik aus den 80ern und Umarmungen. Ich bin (manchmal) eben auch ein basic girl.

TUSH: Wenn wir jetzt noch weiter in die Zukunft blicken, über den bevorstehenden Herbst & Winter hinweg, wie werden wir uns im neuen Jahr schminken? Welche Partien werden mit welchen Farben und Techniken besonders akzentuiert?

Sarah: Die Schönheitswelt ist in den letzten Jahren grenzenlos explodiert. Ich denke, es gibt keine Grenzen mehr, was Techniken und Farben angeht. Es macht Spaß, Risiken einzugehen. Das liebe ich an der Beautywelt. Auch wenn es Regeln gibt, die besten Ideen werden sie immer brechen. Wie du deine Produkte verwendest, hängt vom individuellen Geschmack ab. Es liegt an dir. Trends können keinen Einfluss darauf haben, wozu wir uns authentisch hingezogen fühlen oder was wir wählen, um in unseren Kleiderschränken oder in unseren Make-up-Taschen einen dauerhaften Platz zu finden. Es gibt eine Welle der freien Meinungsäußerung, wenn es um Schönheit geht und ich begrüße diese Entwicklung! Aber unter uns: Ich habe das Gefühl, dass Erdtöne und Bordeaux-Pigmente wieder auf dem Vormarsch sind. Ich bleibe bei meiner Überzeugung, dass der Mund nächstes Jahr noch stärker betont wird und mehr matte Looks als auch Strass und dreidimensionaler Schmuck im Gesicht die Beauty-Welt dominieren werden.

TUSH: Danke für das schöne Gespräch, liebe Sarah!

Foto Steven Hawkins

Haare Crystal Colón

Make-up & Direction Sarah Feingold

Text & Interview Benjamin Schiffer 

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